Azide
Seit der ersten Herstellung organischer Azide, genauer gesagt von Phenylaziden, durch Peter Grieß vor fast 160 Jahren hat diese Entdeckung ein enormes Interesse in der wissenschaftlichen Gemeinschaft geweckt.[1-2] Einige Jahre später wurden mit der Entdeckung der Curtius-Umlagerung im Jahr 1894[3-4] und dem ersten Vorschlag von Nitrenen als Reaktionszwischenprodukte durch Tiemann im Jahr 1891 weitere Maßstäbe in der Azidchemie gesetzt.[5] Erst in den 1950er Jahren fanden organische Azide wieder große Beachtung. Seitdem wurde über zahlreiche neue Synthesen von organischen Aziden und Umwandlungen von Azidderivaten berichtet. Aufgrund ihrer herausragenden chemischen Eigenschaften spielten organische Azide in der organischen Synthese eine zunehmend wichtige Rolle[6-7].
Die Azidgruppe zeichnet sich durch eine bemerkenswerte chemische Reaktivität aus, die auf die außergewöhnliche Fähigkeit des molekularen Stickstoffs als Abgangsgruppe zurückgeführt wird. Ob sie nun als Elektrophile, Nukleophile oder Radikalakzeptoren fungieren, Azide sind eine äußerst vielseitige Familie von Verbindungen, die sich für verschiedene Reaktionswege eignen, bei denen hochreaktive Zwischenprodukte entstehen[6,8].
Die faszinierende synthetische Chemie der organischen Azide wurde in mehreren Übersichtsarbeiten untersucht. Darin wurden entweder ihre Synthesewege und die grundlegenden Mechanismen, ihre Funktion als Vorstufen für die gebildeten Produkte, ihre Fortschritte aufgrund ihrer drei Reaktivitätsmuster oder ihre Anwendungen in den Mittelpunkt gestellt.[6-11]
Neben der oben erwähnten Curtius-Umlagerung sind die bekanntesten Reaktionen mit organischen Aziden die regioselektive Kupfer(I)-katalysierte Azid-Alkin-Cycloaddition (CuAAC), die Staudinger-Reduktion und -Ligation, die Aza-Wittig-Reaktion, die Mitsunobu-Reaktion und die Schmidt-Umlagerung. Diese kleine Auswahl zeigt bereits die Vielseitigkeit der synthetischen Azidchemie, die die Grundlage für eine breite Anwendbarkeit dieser energiereichen Moleküle bildet. Organische Azide finden Anwendung als Treibmittel, als funktionelle Gruppen in Arzneimitteln, in der Naturstoffsynthese, bei der Photaffinitätsmarkierung und auf dem Gebiet der Hochenergiematerialien. Diese vielseitigen Moleküle haben eine Schlüsselrolle an der Schnittstelle zwischen Chemie, Biologie, Medizin und Materialwissenschaft übernommen[6].
Sicherheitsgefahren - allgemeine Hinweise
Azide sind eine interessante Klasse von 1,3-Dipolen, die zur Synthese einer breiten Palette von stickstoffhaltigen Verbindungen verwendet werden können. Allerdings haben Azide bestimmte gefährliche Eigenschaften. Daher sollte man mit den Risiken vertraut sein und verschiedene Sicherheitsvorkehrungen treffen. Die wichtigsten Sicherheitshinweise und -maßnahmen für die Verwendung von Azidoverbindungen sind:[12]
- Verwenden Sie ein Schutzschild
- Bei kritischen Vorgängen wie Erhitzen usw. die Abdeckhaube des Abzugs geschlossen halten.
- Mit kleinen Mengen arbeiten
- Gefährliche Azide so lange wie möglich in Lösung halten; die meisten Sprengstoffe werden normalerweise in Lösung desensibilisiert
- Vermeiden Sie den Kontakt mit Metallen, z. B. Metallspatel
- Beachten Sie die Toxizität von Aziden
Azoylsäure und Natriumazid
Azoesäure ist eine hochgiftige, flüchtige Flüssigkeit, die zu spontanen Explosionen neigt. Durch Ansäuern der Metallsalze kann HN3 freigesetzt werden. Eine unkontrollierte Freisetzung sollte vermieden werden. Die Handhabung von HN3 im Labormaßstab sollte in wässriger Lösung oder in organischen Lösungsmitteln erfolgen.[12]
Die Metallsalze der Azoylsäure aus Blei, Kupfer oder anderen Schwermetallen sind stoß- und druckempfindliche Verbindungen. Stabiler in der Handhabung sind Alkalimetallazide, die unter den meisten Laborbedingungen nicht als Explosivstoffe gelten.[12-13] Natriumazid ist jedoch thermisch instabil und zersetzt sich schnell, wenn es starker Hitze ausgesetzt wird. Aus diesem Grund wird es als Zünder in Airbags verwendet. Das Fahrzeug sendet eine elektrische Ladung aus, wodurch das Natriumazid auf eine hohe Temperatur erhitzt wird, was die schnelle Freisetzung von Stickstoff bewirkt. Die Zündung ist jedoch schwierig, so dass die Explosionsgefahr im Labor unwahrscheinlich ist. Dennoch ist bei der Arbeit mit Natriumazid Vorsicht geboten, da es mit verschiedenen laborüblichen organischen Stoffen wie CS2 oder Brom heftig reagiert.[6] Außerdem sollten chlorierte Lösungsmittel wie Dichlormethan oder Chloroform wegen der Bildung hochexplosiver Azidomethane nicht verwendet werden.[14-15]
Aufgrund der hohen Toxizität von Natriumazid sollte die Aufnahme über die Haut oder die orale Einnahme vermieden werden. Azide bilden starke Komplexe mit Hämoglobin, was zu einer Blockade des Sauerstofftransports im Blut führt. In Bezug auf die Toxizität ist das Azid-Ion mit der Toxizität von Cyanid-Ionen vergleichbar[16-17].
Organische Azide
Die Stabilität von organischen Aziden hängt von ihrer chemischen Struktur ab. Um die Stabilität zu beschreiben, wurden Regeln aufgestellt, die die Anzahl der energetischen Funktionalitäten berücksichtigen. Zusätzlich zu diesen Regeln sollte man bedenken, dass Azide mit einer höheren Molekülmasse weniger flüchtig sind, was ihr Gefahrenpotenzial verringert. Außerdem sind aliphatische Azide viel stabiler und weniger gefährlich als Moleküle mit olefinischen, aromatischen oder Carbonylgruppen neben der Azidgruppe.
1) C/N-Verhältnis
Damit organische Azide manipulierbar oder nicht explosiv sind, gilt die Regel, dass die Anzahl der Stickstoffatome nicht größer sein darf als die des Kohlenstoffs und dass (NC + NO)/NN ≥ 3 (N = Anzahl der Atome). Es ist zu beachten, dass alle Stickstoffatome, nicht nur die der Azidogruppe, in der Gleichung mitgezählt werden.
Ein C/N-Verhältnis zwischen 3 und 1 deutet auf eine hohe Instabilität hin; solche Azide sollten in kleinen Mengen synthetisiert und sorgfältig unter Raumtemperatur und im Dunkeln gelagert werden. Außerdem sollte die Lagerung in Lösungen mit nicht mehr als 1M und weniger als 5 Gramm erfolgen.
Organische Azide mit einem C/N-Verhältnis < 1 sollten niemals isoliert werden.[6]
2) "Sechser-Regel"
Eine andere Methode zur Beschreibung der Stabilität ist die Sechserregel, die besagt, dass es nicht weniger als sechs Kohlenstoffe pro energetischer funktioneller Gruppe geben sollte. Sechs Kohlenstoffe (oder andere Atome von etwa gleicher Größe) pro energetischer funktioneller Gruppe (Azid, Diazo, Nitro usw.) machen die Verbindung relativ sicher in der Anwendung. Bei weniger als sechs Kohlenstoffen pro funktioneller Gruppe kann das Material explosiv sein.[18]
Überblick über Handhabung von Aziden:
Safely Scaling Up Azide Chemistry (acs.org)
Scale-up of Azide Chemistry: A Case Study | Organic Process Research & Development (acs.org)
Information on Azide Compounds – Stanford Environmental Health & Safety
SafeHandlingOfSodiumAzide.pdf (wisc.edu)
Microsoft Word - 04-028 Guidelines for the Safe Handling of Azides (pitt.edu)
Lab Safety Guideline: Sodium Azide (harvard.edu)
Sodium Azide Precautions (acs.org)
Neuigkeiten rund um Azide
E. Liu, J. Topczewski: Enantioselective Nickel-Catalyzed Alkyne–Azide Cycloaddition by Dynamic Kinetic Resolution. J. Am. Chem. Soc. 2021, 143, 14, 5308–5313. https://doi.org/10.1021/jacs.1c01354
W. Hu, C. Qi, X. Guo, A. Pang, N. Zhou, J. Lu, G. Tang, L. Gan, J. Huang: Alkynyl-functionalization of carbon nanotubes to promote anchoring potential in glycidyl azide polymer-based binders via Huisgen reaction for solid propellant application. J. Polym. Res. 2021, 28, 126. https://doi.org/10.1007/s10965-021-02468-3
Azra Kocaarslan,Gorkem Yılmaz,Gokhan Topcu,Levent Demirel,Yusuf Yagcı: A Novel Photoinduced Ligation Approach for Cross-Linking Polymerization, Polymer Chain-End Functionalization, and Surface Modification Using Benzoyl Azides. Macromol. Rapid Commun. 2021, 42, 2100166. https://doi.org/10.1002/marc.202100166
S. Vincenzo Giofrè, M. Tiecco, A. Ferlazzo, R. Romeo, G. Ciancaleoni, R. Germani, D. Iannazzo: Base-Free Copper-Catalyzed Azide-Alkyne Click Cycloadditions (CuAAc) in Natural Deep Eutectic Solvents as Green and Catalytic Reaction Media. Eur. J. Org. Chem. 2021, 4777–4789. https://doi.org/10.1002/ejoc.202100698
Publikationen
D. Huang, G. Yan, Recent Advances in Reactions of Azides, Adv.Synth. Catal. 2017, 359,1600 –1619. https://doi.org/10.1002/adsc.201700103
S. Chang, S. H. Lamm, Human Health Effects of Sodium Azide Exposure: A Literature Review and Analysis. Int. J. Toxicol. 2003, 22(3), 175-186. https://doi.org/10.1080/10915810305109
V. Rostovtsev, L. Green, V. Fokin, K. Barry Sharpless, A Stepwise Huisgen Cycloaddition Process: Copper(I)-Catalyzed Regioselective “Ligation” of Azides and Terminal Alkynes. Angew. Chem. Int. Ed. 2002, 41, No.14. https://doi.org/10.1002/1521-3773(20020715)41:14%3C2596::AID-ANIE2596%3E3.0.CO;2-4
C. Tornøe, C. Christensen, M. Meldal, Peptidotriazoles on Solid Phase: [1,2,3]-Triazoles by Regiospecific Copper(I)-Catalyzed 1,3-Dipolar Cycloadditions of Terminal Alkynes to Azides. J. Org. Chem.2002, 67, 3057-3064. https://doi.org/10.1021/jo011148j
Überblick/Reviews
Bunescu, A., Abdelhamid, Y. & Gaunt, M.J. Multicomponent alkene azido-arylation by anion-mediated dual catalysis. Nature (2021). https://doi.org/10.1038/s41586-021-03980-8
Von unserer Gruppe
M. Schock, S. Bräse, Reactive & Efficient: Organic Azides as Cross-Linkers in Material Sciences. Molecules 2020, 25, 1009. https://doi.org/10.3390/molecules25041009
S. Bräse, M. Mende, H. H. Jobelius, H.-D. Scharf, Ullmann’s Encycl. Ind. Chem., Wiley-VCH Verlag 2015, 1–11. https://doi.org/10.1002/14356007.a13_193.pub2
D. K. Kölmel, N. Jung, S. Bräse: Azides – Diazonium ions – Triazenes: Versatile nitrogen-rich functional groups. Austr. J. Chem. 2014, 67, 328-336. https://doi.org/10.1071/CH13533
N. Jung, S. Bräse: Click reactions: Azide-Alkyne Cycloaddition. Kirk-Othmer Encycl. Chem.Tech., John Wiley & Sons 2013, 1–43. https://doi.org/10.1002/0471238961.clicjung.a01
T. Muller, S. Bräse: Azides. Kirk-Othmer Encycl. Chem.Tech., John Wiley & Sons 2012, 1–21. https://doi.org/10.1002/0471238961.azidbras.a01
N. Jung, S. Bräse, Vinyl and Alkynyl Azides: Well-Known Intermediates in the Focus of Modern Synthetic Methods. Angew. Chem. Int. Ed. 2012, 51, 12169 –12171.
C. I. Schilling, N. Jung, M. B. Biskup, U. Schepers, S. Bräse: Bioconjugation via Azide-Staudinger Ligation - An Overview. Chem. Soc. Rev. 2011, 40, 4840 – 4871. https://doi.org/10.1039/C0CS00123F
O. Plietzsch, C. I. Schilling, T. Grab, S. L. Grage, A. S. Ulrich, A. Comotti, P. Sozzani, T. Muller, S. Bräse: Click chemistry produces hyper-cross-linked polymers with tetrahedral cores. New J. Chem. 2011, 35, 1577-1581. https://doi.org/10.1039/C1NJ20370C
S. Bräse, K. Banert: Organic Azides: Syntheses and Applications. John Wiley & Sons, Ltd, 2010.
C. Schilling, N. Jung, S. Bräse: Common Synthons for Click Chemistry in Biotechnology, in Click Chemistry for Biotechnology and Materials Science, J. Lahann (Ed.), Chap. 2, John Wiley & Sons 2009, 9-28.
C. Schilling, N. Jung, S. Bräse: Synthesis and Functionalization of Biomolecules via Click Chemistry, in Click Chemistry for Biotechnology and Materials Science, J. Lahann (Ed.), Chap. 15, John Wiley & Sons 2009, 355-378.
C. Schilling, N. Jung, S. Bräse, Cycloaddition Reactions with Azides: An Overview, in Organic Azides – Syntheses and Applications, S. Bräse, K. Banert (Ed.), John Wiley & Sons 2009, 269-284.
V. Zimmermann, B. Lesch, S. Bräse: Azidoalkanes. Science of Synthesis, Thieme Verlag, Stuttgart, 2009, Vol. 41.
S. Bräse, A. Friedrich, M. Gartner, T. Grab, T. Schröder: Cycloaddition Reactions of Azides, Topics in Heterocycl., Springer Verlag 2008, 12, 45-116.
S. Bräse, D. Keck: Aryl azides, in Science of Synthesis, Chap. 31.42, Thieme Verlag, Stuttgart, 2007.
S. Bräse, C. Gil, K. Knepper, V. Zimmermann: Organic Azides: An Exploding Diversity of a Unique Class of Compounds [Organische Azide: explodierende Vielfalt bei einer einzigartigen Substanzklasse]. Angew. Chem. 2005, 117, 5320–5374, 10.1002/angew.200400657; Angew. Chem. Int. Ed. 2005, 44, 5188–5240. https://doi.org/10.1002/anie.200400657
Referenzen
[1] P. Grieß, Philos. Trans. R. Soc. London 1864, 13, 377-377.
[2] P. Grieß, Justus Liebig Ann. Chem. 1865, 135, 131-131.
[3] T. Curtius, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft zu Berlin 1890, 23, 3023-3033.
[4] T. Curtius, J. für Prakt. Chemie 1894, 50, 275-294.
[5] F. Tiemann, Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1891, 24, 4162-4162.
[6] S. Bräse, C. Gil, K. Knepper, V. Zimmermann, Angew. Chem. Int. Ed. 2005, 44, 5188-5240.
[7] E. F. V. Scriven, Azides and Nitrenes: Reactivity and Utility, Academic Press, Inc., Orlando, Florida, 1984.
[8] D. Huang, G. Yan, Adv. Synth. Catal. 2017, 359, 1600-1619.
[9] D. K. Kölmel, N. Jung, S. Bräse, Vol. 67, 3 ed., pp. 328-336.
[10] M. Schock, S. Bräse, Molecules 2020, 25.
[11] B. Hu, S. G. Dimagno, Org.Biomol. Chem. 2015, 13, 3844-3844.
[12] K. Banert, S. Bräse, Organic azides : syntheses and applications, 1. publ. ed., Wiley, Chichester, 2010.
[13] J. M. M.E.C. Biffin, D.B. Paul, The Chemistry of the Azido group, Interscience Publishers, New York, USA, 1971.
[14] R. E. Conrow, W. D. Dean, Org. Process Res. Dev. 2008, 12, 1285-1286.
[15] K. Banert, Y.-H. Joo, T. Rüffer, B. Walfort, H. Lang, Tetrahedron Lett. 2010, 51, 2880-2882.
[16] C. L. R. Smith, R. Kruszyna, H. Kruszyna, Fundam. Appl. Toxicol. 1991, 17, 120-127.
[17] In the MAK-Collection for Occupational Health and Safety: Natriumazid [MAK VAlue Doc. Ger. Lang. 2003], Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim, Germany, 2012.
[18] H. C. Kolb, M. G. Finn, K. B. Sharpless, Angew. Chem. Int. Ed. 2001, 40, 2004-2021.